Eberhard Arnold

Versammlungsprotokoll, 20. Juli 1933

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - T.S.H.]

EA 124

Von der schöpferischen Pause

Gemeindestunde, 20.7.33

Es ist notwendig, dass wir heute abend uns kurz besinnen auf die Einsamkeit und Gemeinsamkeit unseres Lebens und auf das Verhältnis und die Beziehung zwischen der Einsamkeit und der Gemeinsamkeit. Es war, als wir uns entschlossen hatten, gemeinsam zu leben, wiederholt ein tiefgehendes Gesprächsthema zwischen uns: in welchem Verhältnis steht die notwendige Einsamkeit vor Gott zu der notwendigen Gemeinsamkeit in Gott. Der Mensch ist nicht allmächtig, seine Kraft ist sehr beschränkt. Und einer unserer früheren freideutschen Führer hat eine kleine Schrift geschrieben über das seelische Einatmen und Ausatmen und hat den Ausdruck von der "schöpferischen Pause" gebraucht. Wenn wir mit Menschen umgehen, so nehmen wir auf und geben wir aus. Während jeder Begegnung mit wesentlichen Menschen, die vom Wesentlichen berührt und angefasst sind, ist ein Einnehmen und Abgeben, ein Einatmen und Ausatmen. Wir können nicht mit Menschen zusammen sein, ohne ihnen etwas zu geben und ein ehrfurchtsvoller kindlicher Mensch kann auch niemals mit anderen Menschen zusammen sein, ohne etwas von ihnen zu empfangen. Und gerade diese Ehrfurcht und diese Dankbarkeit. in welcher man in aller Bescheidung gibt und nimmt, sind die Kennzeichen wahrer Gemeinschaft. Es kann gar keine Gemeinschaft bestehen, wenn einer sich einbildet er gebe nur. Es kann aber auch keine Gemeinschaft bestehen, wenn einer sich zu dem Gedanken zwingt, er empfange nur und hätte nichts zu geben. Das Geheimnis, dass wir alle Brüder sind, bedeutet, dass wir einander einen brüderlichem Dienst im Annehmen und Aufnehmen wie auch im Geben erweisen. Wir leben nicht nur miteinander sondern auch voneinander. Und wenn der Leib Christi in allen seinen Gliedern den Geist empfängt, der den ganzen Leib beseelt, so dienen alle diese Glieder einander. Keines kann den anderen entbehren. Keines lebt ohne das andere. Eins ist für das

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andere da, und sie alle sind miteinander zusammen da in der Einheit des wesentlichen Körpers. Das ist das Geheimnis des gemeinsamen Lebens. Nun aber sind wir schwache Menschen und deshalb können wir nicht ununterbrochen einnehmen und abgeben, einatmen und ausatmen. Zwischen den Atemzügen liegt die schöpferische Pause. Ohne diese vermögen wir nicht zu leben. Jeder Tag verläuft in einem Rhythmus zwischen Wachsein und Schlaf, und alles seelische Leben braucht die schöpferische Stille, die innerliche Ruhepause des einsamen Versenktseins, Gesammeltseins in sich selbst und vor Gott. Freilich ganz einsam sind glaubende Herzen niemals. Gott ist immer da. Deshalb ist das gemeinsame Schweigen ein so grosses Erleben. Zwei Brautleute sind erst dann zu der richtigen gegenseitigen Liebe gekommen, wenn sie auch miteinander schweigen können. Das Geheimnis des gemeinsamen Schweigens zwischen den lebendigen Menschen ist das Geheimnis de schöpferischen Pause. Das Schweigen ist gemeint, in dem der Mensch wartet auf das, was Gott an ihm tut. Insofern gibt es für uns, für die Glaubenden und Liebenden, nie eine völlige Einsamkeit; aber eine Stille ist notwendig, in welcher wir weder abgeben noch aufnehmen, sondern in dem waltenden Ruhezustand an der Kraftquelle liegen. Wenn nun in arbeitsreichen Zeiten und in sonst überlasteten Zeiten eines gemeinsamen Lebens zu wenig Ruhe zum physischen Schlaf und zu dieser seelischen Pause gegeben ist, so ist das innere Leben in Gefahr. Die seelische Beschaffenheit des Menschen ist so geartet, dass der Mensch ohne diese Stille nicht wirklich leben kann. Er fühlt sich wie ausgesaugt, wie ausgepresst, er fühlt, dass in seinem Inneren eine Krisis, sogar eine unfruchtbare Krisis ist; denn der Mensch ist geistig unfruchtbar, wenn ihm die schöpferische Pause fehlt. Der Mensch ist auch zur Liebe nicht beständig fähig, wenn er nicht die stillen Augenblicke kennt, die zu dem Umgang mit Menschen eingeschoben werden muss. Das wollen wir niemals vergessen. Wir sind keine Fanatiker

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der Gemeinsamkeit zwischen Menschen, dass wir sagen würden, wir wollen niemals allein sein, das wäre ungöttlich und unmenschlich. Wir wissen, dass wir schwache Menschen sind, die ihre Kräfte nicht überspannen dürfen, Menschen, für die es zur Sünde wird, wenn sie den Bogen ihrer Nerven überspannen und deshalb ist das Leben in Gemeinschaft so. wie es der scheinbar antichristliche Nietzsche im Zarathustra so wunderbar zum Ausdruck bringt. Zarathustra lebte in der Höhle mit den Tieren, denn er konnte die Menschen nicht mehr ertragen. Auf einmal trieb es ihn, zu den Menschen zu gehen. Er ging zu den Seiltänzerinnen, zu den hässlichsten Marktplätzen, zu den Einsamen, er suchte die Menschen. Aus der Stille der Höhle trieb es ihn zu den Menschen. So geht es den Menschen, die mit dem Wesentlichen Berührung haben. Freilich gibt es auch tote Geister, tote Seelen. Dostojewski erzählt von jenem toten Seelen, die in der erzwungenen äusseren Gemeinschaft zu Grunde gehen, wenn sie wie in einem Zuchthaus zusammengepresst sind, ohne doch ein wahres Gemeinschaftserlebnis zu haben. Furchtbare Schicksale toter Seelen gibt es, wie z.B. Dickens in seinem Weihnachtsmärchen erzählt von jenem alten Mann, der seine Jugendliebe mit Füssen getreten hatte, dass er nun nichts anderes mehr kannte als seine Konto-Bücher und seine Kasse … So gibt ee eine Ertötung der Seele in einer unechten Gemeinsamkeit wie auch in einer kalten ertrockneten Einsamkeit. Beides ist falsch. Anstelle dessen muss es uns gegeben werden, dass wir in dem echten Rhythmus leben. In diesem Rhythmus unseres Lebens schöpfen wir in der Stille die Kraft, dass wir von neuem lieben können, ausgeben können, aufnehmen können. Das ist das echte Leben für uns Menschen und das wünschen wir uns alle. Wir dürfen also nicht denken, wir wollten in die Einsamkeit, weil uns das Zusammenleben mit vielen Menschen die Nerven überanstrenge. Die Einsamkeit könnten wir noch viel weniger er-

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tragen, nachdem wir das wunderbare Geschenk wahrer erfüllter Gemeinschaft erlebt haben. Wohl aber sollen wir aufmerken, wenn uns ein solches Gefühl auftaucht, wir müssen einkehren in uns Selbst, Einkehr halten zu Gott, damit wir wieder lieben können. Wir müssen für kurze Zeit in die einsame Höhle gehen, damit wir wieder mit der Kraft der Liebe erfüllt zu den Menschen gehen können… Das die Liebe in unsere Herzen ausgegossen ist durch den heiligen Geist.

Deshalb möchten wir auch heute abend einige Augenblicke in schweigender Andacht zusammen sein. Dann ist uns beides gegeben: die schöpferische Pause, in welcher Gott in unsern Herzen spricht und die Gemeinsamkeit des Bewusstseins: jetzt spricht Gottes Stimme in den Herzen aller, die hier vereinigt sind.