Eberhard Arnold

Der Kampf um die Kindheit

[Arnold, Eberhard and Emmy papers – M.S.]

EA 28/5

Der Kampf um die Kindheit

Jesus stellt die Behauptung auf: "Den Kindern gehört das Reich Gottes." Sie gehören hinein. "Wenn ihr ihnen nicht gleich werdet, könnt ihr nicht in das Herrschaftsgebiet Gottes eindringen." Wie unbegreiflich den meisten diese Worte sein müssen, beweist die Tatsache, daß die wenigsten Menschen die Frage beantworten können: Worin sind die Kinder den großen Menschen voraus? Es ist kein Zweifel, daß die noch nicht wie die Erwachsenen mit bitteren und schweren Erfahrungen belasteten Kinder dennoch ein Elend in sich tragen. Hier setzt der Christusglaube ein, daß alle Kinder unter der Gnade stehen. Weil Christus die ganze Welt versöhnt hat, hat er allen Kindern das ererbte Elend der gottentfremdeten Vereinzelung abgenommen. Schopenhauer und andere Pessimisten sehen den Jammer der Menschheit am schmerzlichsten darin in Erscheinung treten, daß das kleine Menschenkind schreiend zur Welt kommt, als ob es vor Jammer sterben müßte. Der Pessimist sieht es nicht, daß sich dieselben Kinder so freuen, wie sich Erwachsene niemals freuen können, wenn sie nicht ebenso werden wie die Kinder.

Es ist kein Zweifel, daß schon das kleine Kind von seinen Eltern her in sich trägt was das Kind belastet. Und doch ist das kleine Kind dieser Erbmasse des Schlechten gegenüber in einer durchaus anderen Lage als wir Großen. Die grundlegende Verschiedenheit besteht darin, daß das Kind noch keine Willensentscheidung für das Böse getroffen hat. Sobald das Kind mit bewußtem Willen das Böse getan hat, hat es aufgehört ein Kind zu sein. Die Erbmasse der Gottlosigkeit, der anti-sozialen Kräfte, der schlechten Eigenschaften und der bösen Erfahrungen der Eltern und Voreltern lastet auf dem kleinen Kinde. Aber sie ist noch nicht zur Tat geworden. Sie ist noch nicht zur bewußten Ausreifung gelangt. Hierin unterscheidet sich das Kind von uns Großen. Wir sprechen deshalb mit Recht von der Harmlosigkeit oder von der Arglosigkeit des Kindes, was beinahe dasselbe ist wie Sündlosigkeit.

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Diese uns fremd gewordene Welt sehen wir ganz deutlich an jedem Kinde, wenn wir Kinder wirklich lieben und mit ihnen wirklich leben. Wir sehen in ihnen eine Fähigkeit zur freien Hingabe, die wir selber verloren haben. Und eben diese Fähigkeit meint Jesus, wenn er sagt: "Ihr müßt wie die Kinder werden." Es handelt sich um die befreiende Fähigkeit der Freude und der Hingabe, die in ihrem beschauenden Interesse in ihrem Gegenstand aufgeht. Es ist die Fähigkeit, daß sich das Kind in das, was es sieht und erlebt, völlig hingibt, gerade wenn es "nur zu spielen" scheint. Das echte Kind spürt seine Sonderexistenz in dem Augenblick seines Erlebens nicht. Es ist frei von jeder Selbstbetrachtung und von dem sich mit diesem ergebenden Abstand. Das Erlebnis nimmt das Kind so in Anspruch, daß es im Schauen in dem Geschauten aufgeht. Das Kind kennt nicht die Abgrenzung der Persönlichkeit von ihren Erlebnisinhalten. Es ist nicht vereinzelt. Es hält nichts für sich selber fest - außer in der sich selbst verlierenden Hingabe.

Das Kind kennt das Geheimnis der Konzentration als das Geheimnis des Schauens, das die fassende Aufnahme des Geschauten ist. Daher kennt es das Geheimnis des Relgiösen. Freilich ist dieses bei ihm ganz anders als bei dem Erwachsenen. Es kennt nicht die dogmatische Form der religiösen Dinge; es kennt nicht den kultisch festgelegten Gottesdienst. Das Kind kennt das Geheimnis des Religiösen, weil es ohne Gedanken über das Selbst seines kleinen Ich, ohne Betrachtung des Betrachtenden über ihn selbst das in sich aufzunehmen weiß, was das Geheimnis alles Lebens ist. Es spürt das Licht Gottes hinter den Sternen, die am Himmel angezündet sind. Es spürt das Schwingen der Engel in den Winden. Es spürt den lebendigen Schöpfergeist in den Blumen, wenn es sie im Winde hin- und herwehen sieht. Es spürt die Schönheit und Kraft des Gottesgeistes in der Herrlichkeit der Natur. Es spürt in der Liebe der Menschen untereinander und in der Liebe seines kleinen Kinderherzens das Geheimnis der Gottesliebe als den Urgund des Lebens. Dem echten

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Kind ist die Liebe nichts anderes als die schöpferische Freude, die sich verlierende Hingabe an das, woran man sich freut.

Deshalb ist das Kind einer Zutraulichkeit fähig, die uns Erwachsenen fast immer abzusprechen ist. Es ist ja sprichwörtlich geworden, daß der Mensch umso schwerer sich befreunden kann, je älter er geworden ist. Das bedeutet Verlust an Lebenskraft. Denn die Lebenskraft besteht in der organischen Bündung und Einigung. Das Kind aber ist in seiner Aufnahme jedes neuen Kindes jeden Augenblick bereit zu wahrer Freundschaft, weil es wahrhaftig und wirklich vertrauen kann. Ist doch das Mißtrauen das Kennzeichen, daß wir in das Sündigen getreten sind. Ist doch das Vertrauen das Kennzeichen, daß wir nicht in der Tatsünde des Bösen stehen.

Wenn wir von dem, was hier nur angedeutet werden kann, auch nur ein wenig begreifen, so werden wir einsehen, daß in einem Hause, welches der Gemeinschaft untereinander dient, die Kinder den ersten Platz haben müssen. Sie haben ihn umso mehr, je mehr sie wirklich Kinder sind. Man könnte sagen: Unsere Führer können nur Kinder sein; denn wir wollen so werden, wie echte Kinder sind. Deshalb freuen wir uns mit den Kindern an ihrer Beglückung in der Natur, an ihrer Freude an den Blumen und den Wäldern, an den Pferden, Hunden, Kühen, Ziegen und Kaninchen, an den Rehen und Vögeln und was es sonst an Lebendigem gibt. Wir freuen uns an ihren Höhlenbauten, in denen sie sich so glücklich in der Hingabe an diese Aufgabe verlieren, als ob sie den schönsten Palast besäßen. Wir freuen uns an ihrer spielenden Arbeit oder an ihrem arbeitendem Spiel. Das Kind lernt in der spielenden Freude an seiner Beschäftigung das Gestalten, das Bilden von Werten, das Schaffen der Kultur.

Am meisten freuen wir uns, wenn unter den Kindern wieder und wieder ein Geist der Gemeinschaft, die Glaubens-Freundschaft der Freude und des vertrauenden Aufbaus entsteht. Wir freuen uns an den kleinen

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Kindern, wenn wir es in ihren Augen spüren, daß sie anfangen, uns zu vertrauen und sich an uns zu freuen. Wir freuen uns an den größeren Kindern, wenn sie miteinander Trupps, Bünde oder Gemeinschaften gründen, in denen sich diese Vertrauenseinheit erweist. Wir freuen uns an allem, was hier ursprünglich und echt ersteht. Hier wird alles geboren und nichts gemacht.

Aber es würde dennoch ein schwerer Irrtum sein, wenn man hieraus den Schluß ziehen würde, daß das Leben des Kindes kampflos sei, daß es noch nichts mit der Versuchung zum Bösen zu tun habe. Im Gegenteil, gerade jene Einsicht in das Wesen des Kindes, die wir Jesus verdanken, zeigt uns das Erschreckende, wenn in dem Leben eines Kindes der Wille zum Bösen auftritt und zur Tat drängt. Deshalb gilt es, Kinder zu lenken und zu leiten, daß ihre freie Hingabefähigkeit geweckt und gestärkt wird. Es gilt, sie mit Gutem zu beschäftigen, sie für das Göttliche zu interessieren und sie mit dessen Kräften zu erfüllen.

Es kommt alles darauf an, ob wir diese weckende interessierende Arbeit dort einsetzen, wo das Kind wirklich Kind ist. Es handelt sich um keine polemische Bearbeitung, um keine kritische Zersetzung, um keine richtende Unbarmherzigkeit, um kein ungläubiges Kommande. Kinderarbeit ist vertrauend, anregend und aufrichtend. Sie erkennt in dem Kinde jene wirklich echte Kindhaftigkeit. Diese ruft sie immer von neuem wach und erfüllt sie mit immer neuen Kräften. Die Liebe zum Kinde hebt und bejaht das Wesen des Kindes. Sie läßt aus der Wirklichkeit dieser Kindhaftigkeit heraus dem Kinde immer neue Kräfte zukommen, so daß es der bewußten schlechten Tat nicht verfällt.

Wir Erwachsenen sind nicht fähig den Moment zu erkennen, in welchem das noch kleine Kind zum ersten Mal die wirklich bewußte Entscheidung für eine schlechte Handlungsweise trifft. Wer mit Kindern leben will, muß vor allem seine eigene Unfähigkeit zu dieser tieferen Gerechtigkeit

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erkennen. Dieses Zugeständnis sollte uns gegen jene falsche Methode stutzig machen, die das Kind bei schlechten Handlungen ertappen und vergewaltigen wollte. Das Mißtrauen und das Einreden schlechter Absichten schwächt das Kind, statt es zu stärken. Das künstliche Bewußtmachen der bösen Triebe kann nicht der lebendige Weg sein. Ein jeder solcher Versuch verdirbt das Seelenleben des Kindes. Brutal zwingt es ihm den bösen Willen auf. Dieser moralische Gewaltakt an einem durchaus ungeeigneten Objekt macht unmoralisch. Kein Mensch hat das Recht, so zu handeln. Die falsche Voraussetzung liegt in der ausgewachsenen Schlechtigkeit des bösen Willens. Es ist hundert gegen eins zu setzen, daß das Kind bei weitem nicht so bewußt das Schlechte getan hat, wie es der verzweifelte Erwachsene annimmt. Anstatt dessen muß in dem Stärken der kindlichen Energien immer von dort der Ausgangspunkt genommen werden, wo das Kind ganz Kind ist, wo es sich noch nicht für das Schlechte entschieden hat. Dort muß man einsetzen, wo es klar vor uns liegt: Hier ist das Kind noch ganz voller Vertrauen, noch ganz voller Hingabefähigkeit. Hier ist es noch ganz ergriffen von der hinter den Dingen schlummernden Schöpferkraft und Liebe.

Dasselbe gilt in dem Unterricht und in der Erziehung zur Arbeit für die größeren Kinder. Wir werden nur dann in der geistigen Arbeit und in der Werkarbeit mit den Kindern glücklich sein, wenn es uns gelingt, bei jedem Arbeitsgegenstand, dieses tiefste Geheimnis der noch nicht verdorbenen Freude zu entdecken und wach zu machen. Wir behaupten, das dies bei jedem Interessengebiet möglich ist. Es gibt nichts im Himmel und auf der Erde, was nicht ein Gegenstand des Interesses Gottes ist. Folglich kann es das Interesse eines jedem echten Kindes finden. Bei jedem Zusammenkommen mit Kindern können wir in der geistigen oder körperlichen Arbeit dieses Lebendige in dem Kinde berühren. Es gibt ein einfaches Mittel, durch das wir uns prüfen können

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ob wir es wirklich berührt haben. Wir haben dieses Geheimnis des Kindes nämlich nur dann berührt, wenn wir selbst davon berührt worden sind, sonst nicht. Wir können also ein Kind nur dann zur Ordnung, zur Sauberkeit, zur Wahrhaftigkeit, zur Liebe, zum geistigen Interesse, oder zur körperlichen Zucht erziehen, wenn wir Erzieher von dem Gottesgeheimnis des Kindes so berührt und angetan sind, daß es uns innerlichst ergreift, welch ein Wunder der Freude und der Liebe in diesem Kinde schlummert. Dieser heilige lebendige Funke muß durch die gerade vorliegende Beschäftigung entfacht sein.

Erziehungsarbeit ist Dienst der Anbetung. Ohne jede Anbetung des Kindes handelt es sich allein um die Ehrfurcht vor dem göttlichen Geheimnis, vor der Gottesähnlichkeit, die hier noch nicht völlig verschüttet ist.

Der Mensch ist dazu berufen, den Charakter Gottes abzubilden und darzustellen. Bei uns großen Menschen scheint die Erfüllung dieser Bestimmung hoffnungslos zu sein. Bei den Kindern ist sie noch nicht durch einen bestimmten Willensakt verraten und verloren. Wer eine Empfindung für das Ebenbild Gottes hat, wird davon ergriffen, so oft er mit einem Kinde zu tun hat. Wohl ist die Neigung zum Schlechten schon im kleinsten Kinde eine Trübung dieses Bildes. Aber erst wenn es zu einer Tat bestimmtester Willensentschließung kommt, zu einer schlechten Tat, die der Ebenbildlichkeit Gottes widerspricht, kommt es zum katastrophalen Verderb des Bildes. Hierfür kann keine Regel eines bestimmten Alters angegeben werden. Das Ende des Kindseins bleibt wie das Wesen des Kindes Geheimnis.

So gibt es denn keine feste Zeitbestimmung, wann der bewußte Kampf des Geistes gegen das Böse wirklich einsetzt. Daß aber dieser Kampf in dem Leben eines jeden Kindes in einem bestimmten kritischen Jahr zu einer jenes Bild verwüstenden Katastrophe führt, ist sicher. Hier brauchen alle, die sich für die Erziehung des Kindes verantwortlich

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wissen, ein waches Herz, eine aktive Liebe, ein wirkliches Miterleben. Sie werden von der dem Kinde drohenden Gefahr mit ihm gemeinsam ergriffen, - nicht, um das Kind zurechtzuschlagen, sondern um in dem Kinde und mit dem Kinde die Position des Kämpfers einzunehmen. Denn in dieser Krisis soll ja das Kind die Kraft bekommen, den Kampf gegen das Schlechte selbst aufzunehmen, um ihn siegreich bestehen zu können.

Das hier aufbrechende Schlechte ist das Unkindliche, weil es dem Herzen und dem Bilde Gottes widerspricht. Das Schlechte ist alles das, was dem wahren Leben des Kindes widerstreitet. Der Schlechte ist der Tod und alles, was zum Tode führt. Gott ist das Leben. Wenn wir das Geheimnis des Lebens, wie wir es in einem Kinde staunend erfassen, in Gott begreifen, dann ist es klar, was das Gute ist, woran wir für die Kinder glauben müssen.

Das Gute ist das Geheimnis des Lebens, wie es dem wahren Kinde aufgeht. Es ist die organische Einheitsbeziehung des Lebens. Es ist die Liebe als Energie bündenden Bundes und bindenden Bandes. Es gibt keine andere Wahrheit als die vereinigende Liebe. Tapfere Wahrhaftigkeit in der Liebe ist die Lebenshaltung, die der Wahrheit entspricht. Wahre Liebe ist wahrhaftig. Die Lüge zerstört das Leben, weil sie die Einheit des Charakters und die Vertrauenseinheit der Liebe aufhebt. Das wahre Leben, wie es im echten Kinde lebt, lehnt die Lüge wie den Tod ab.

Man hat das Geheimnis des Lebens darin gesehen, daß es gegen alle Reize, die das Leben zu Tode bringen wollen, kämpferisch abwehrend reagiert. Das Lebewesen gibt sein Leben auf, wenn es den Widerstand gegen die Gifte verliert, die es zerstören. Als lebendiger Lebenszusammenhang ist das Leben die kämpferische Kraft der Abwehr, die den Tod überwindet. So gibt es denn keine andere Wahrhaftigkeit, als die, welche die Wahrheit bis auf den Tod vertritt. Sie

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lehnt jede Vermischung mit den Dingen des Todes ab. Sie behauptet das wahre Leben und die wirkliche Liebe. Ohne diese kämpferische Haltung wäre das Leben verlogen und verdorben. Die Wahrheit wirklichen Lebens ist die Tapferkeit. Der Glaube an die Wahrheit ist die Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist die Lebenshaltung, die dem Glauben entspricht. Wer der Wahrheit nicht glaubt, wer ihr nicht mit völliger Hingabe treu ist, beweist sich als unwahrhaftig. Die Wahrheit führt zur Gradheit und Entschlossenheit, zur Rechtwinkligkeit an Leib und Seele. Das ist die Redlichkeit des Charakters. Das ist der aufrechte Gang des Menschen, zu dem er berufen ist. Nur die Gradheit der reinen Liebe ist die Freiheit der Seele.

Das gefährliche Gift unwahrer Ungradheit ist die sexuelle Unsauberkeit. Sie raubt uns die Freiheit. Das Knochengerüst des geschlossenen Charakters wird durch jede Unreinigkeit aufgelöst und zerstört. Unreinheit ist Unwahrhaftigkeit und Untreue, die Sünde gegen die Einheit der Menschen untereinander. Die Reinheit ist wie die Wahrheit jenes Geheimnis des Lebens, das Gott selbst ist.

Dieses Leben ist die Liebe in Reinheit und Wahrheit. Der erwachsene Mensch steht dem allen ferner als das Kind. Solange das Kind wahrhaft kindlich ist, bleibt es dem Leben treu und wehrt den Tod ab. Es lebt in der Liebe, in der Einheit, in der Wahrheit, in der Wahrhaftigkeit und in der Reinheit. Seine lebendige Liebe geht so tief in ihrer Schau auf, daß das Kind sich selbst, alle seine Gedanken und Wünsche an den Gegenstand seiner liebenden Schau hingibt. Das Leben des echten Kindes ist eine gänzlich unbewußte Opferbereitschaft, die sich keine Gedanken über die eigne Aufopferung machen kann. Im lebendigen Organismus, in welchem der Leib Einheit ist, lebt keine Zelle für sich selbst. Eins gibt sich dem anderen hin. So ist der natürliche Egoismus auch beim Kinde eine Krankheit oder eine Anfechtungsperiode, die überwunden werden muß. Sie widerspricht der Lebendigkeit des Kindes in seiner von sich

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selbst freien Hingabe an das Spiel. Hier hat kein Erzieher ausgelernt. Jedes Geschenk, das man dem Kinde als persönliches Eigentum übergibt, ist eine Versuchung zur Unkindlichkeit. Jeder Besitzanspruch, den das Kind erhebt, könnte jene die Kindheit vernichtende Krise sein, in welcher das Kind sich für das Schlechte und Teuflische entscheidet, indem es seine Freiheit der Hingabe verliert. Wenn ein Kind dazu kommt, daß sich in ihm Besitzgier, Eigentumswille, Neid, Machtgier und Ichbehauptung durchsetzen, so ist der Absturz aus dem Reich der Kindheit erfolgt. Der Gegenstand des Besitzes nimmt das Kind in Besitz. Es hat nun seine aufgeschlossne Freiheit, seine hingebende Liebefähigkeit soweit eingebüßt, soweit dieses kleine Eigentum hindernd dazwischen steht.

Wie schwierig und verantwortungsvoll ist die Kindererziehung für uns in dem allen unfreie Menschen! Nur Weise und Heilige sind dazu fähig. "Wir sind unreiner Lippen." Unsre Hingebung ist nicht vorbehaltlos. Unsre Wahrhaftigkeit ist gebrochen. Unsre Liebe ist nicht völlig. Unsre Güte ist nicht absichtslos. Wir sind nicht frei von liebewidrigem Eigenwillen und Eigentum. So ist es das Kind, das uns zum Evangelium führt. Die Aufgabe, die wir dem Kind gegenüber haben, zeigt uns, daß wir zu schlecht sind, um in diesem heiligen Sinn auch nur ein einziges Kind erziehen zu können. Dieses Bewußtsein führt uns zur Gnade. Mit Kindern kann man ohne die Atmosphäre der Gnade nicht umgehen. Nur dann kann man Kinder erziehen, nur dann kann man mit ihnen leben, wenn man wie ein Kind vor Gott steht. Nur so gibt man seine gierige Scheinberechtigung auf. Nun kann man auf kein Anrecht des Eigenen pochen, in dem man etwas von Gott erlangen will. Wie ein Kind läßt man sich alles schenken. So wird alles zum Wunder, über das wir staunen müssen. Der Gnade entspricht die staunende Anbetung. So wird der Ausgangspunkt zum Endpunkt. "Ihr müßt wie die Kinder werden." Steht wie die Kinder vor der Gnade! Ihr müßt staunen lernen. In dem Bewußtsein eurer eigenen Kleinheit

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staunt über die Größe des göttlichen Geheimnisses, das in allen Dingen und hinter allen Dingen verborgen liegt. Nur so werdet ihr beschenkt werden können. Nur so werdet ihr die Anschauung des Geheimnisses gewinnen, in der ihr euch selbst ganz vergeßt und in der euch die große Sache ganz überwältigt. Nur an Menschen mit Kinderaugen könnt ihr es sehen, wie sie sich in das hineingeben können, worüber sie staunen.

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Der Kampf um die Kindheit

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S]

Der Kampf um die Kindheit

Die Wegwarte, 4. Jahrgang 9./12. Heft. Juni – September 1928

Jesus stellt die Behauptung auf: „Den Kindern gehört das Reich Gottes.“ Sie gehören hinein. „Wer ihnen nicht gleich wird, kann in sein Herrschaftsgebiet nicht eindringen.“ Wie unbegreiflich den meisten diese Worte bleiben müssen, beweist die Tatsache, daß die wenigsten Menschen die hiermit gegebenen Fragen beantworten können: Worin sind die Kinder den großen Menschen voraus? Worin können sie uns Vorbild werden? Worin besteht das Kindsein? Wann und wie findet es sein Ende? Worin besteht die Erziehung, wenn das Kindsein den Erwachsenen voraus ist? Gibt es einen Kampf um das Kindbleiben und um das Kindwerden? In welchem Geist soll dieser Kampf geführt werden?

Es ist kein Zweifel, daß die noch nicht mit den bitteren Erfahrungen der Erwachsenen belasteten Kinder dennoch ein Elend in sich tragen. Hier setzt der Christusglaube ein, in dem alle Kinder unter der Gnade stehen. Weil Christus die ganze Welt versöhnt hat, hat er allen Kindern das ererbte Elend der gottentfremdeten Vereinzelung abgenommen. Schopenhauer und andere Pessimisten sehen den Jammer der Menschheit am schmerzlichsten darin in Erscheinung treten, daß das kleine Menschenkind schreiend zur Welt kommt, als ob es vor Jammer sterben müßte. Der Pessimist sieht es nicht, daß sich dieselben Kinder so freuen, wie sich Erwachsene niemals freuen können, - wenn sie nicht ebenso werden wie die Kinder.

Es ist kein Zweifel, daß schon das kleine Kind von seinen Eltern her etwas in sich trägt, was das Kind belastet. Und doch ist das kleine Kind dieser Erbmasse des Schlechten gegenüber in einer durchaus anderen Lage als wir Großen. Die grundlegende Verschiedenheit besteht darin, daß das Kind noch keine Willensentscheidung für das Böse getroffen hat. Sobald das Kind mit bewußtem Willen das Böse getan hat, hat es aufgehört, ein Kind zu sein. Die Erbmasse der Gottlosigkeit, der antisozialen Kräfte, der schlechten Eigenschaften und der bösen Erfahrungen der Eltern und Voreltern lastet auf dem kleinen Kinde. Aber sie ist noch nicht zur Tat geworden. Sie ist noch nicht zur bewußten Ausreifung gelangt. Hierin unterscheidet sich das Kind von uns Großen. Wir sprechen deshalb mit Recht von der Harmlosigkeit oder von der Arglosigkeit des Kindes, was beinahe dasselbe ist wie Sündlosigkeit.

Diese uns fremdgewordene Welt sehen wir an jedem Kinde, wenn wir Kinder wirklich lieben und mit ihnen leben. Wir sehen in ihnen eine Fähigkeit zur freien Hingabe, zum Vertrauen und zur Gerechtigkeit, die wir selber verloren haben. Und eben diese Fähigkeit meint Jesus, wenn er sagt, „ihr müßt wie Kinder werden“. Es handelt sich um die befreiende Fähigkeit der Freude und der Hingabe, die als beschauendes und schaffendes Interesse im Gegenstand aufgeht. Es ist die Fähigkeit, daß sich das Kind in das, was es sieht, erlebt und tut, völlig hingibt, gerade wenn es „nur“ zu „spielen“ scheint. Das echte Kind spürt seine Sonderexistenz in dem Augenblick dieses Erlebens nicht. Es ist frei von jeder Selbstbetrachtung und von dem sich mit dieser [sic] ergebenden Ab-

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stand. Das Erlebnis nimmt das Kind so in Anspruch, daß es schauend in dem Geschauten, daß es handelnd in dem zu Schaffenden aufgeht. Das Kind kennt nicht die Abgrenzung der „Persönlichkeit“ von ihren Erlebnisinhalten. Es ist nicht vereinzelt. Es hält nichts für sich selber fest. – Es kennt nichts als die sich selbst verlierende Hingabe. Das Kind kennt das Geheimnis der Konzentration als das Geheimnis des Schauens, das die fassende Aufnahme des Geschauten ist. Es kennt das Geheimnis der schöpferischen Kräfte als die schaffende Hingabe der tätigen Liebe. Es kennt das Geheimnis des Religiösen. Freilich erscheint dieses bei ihm ganz anders als bei dem Erwachsenen. Es kennt nicht die dogmatische Form der religiösen Dinge; es kennt nicht den kultisch festgelegten Gottesdienst.

Das Kind kennt das Geheimnis des Religiösen, weil es ohne Gedanken über das Selbst seines kleinen Ich – ohne Betrachtung des Betrachtenden über ihn selbst – das in sich aufzunehmen weiß, was das Geheimnis alles Lebens ist. Es spürt das Licht Gottes hinter den Sternen, die am Himmel angezündet sind. Es spürt das Schwingen der Engel in den Winden. Es spürt den lebendigen Schöpfergeist in den Blumen, wenn es sie im Winde hin- und herwehen sieht. Es spürt die Schönheit und Kraft des Gottesgeistes in der Herrlichkeit der Natur. Es spürt in der Liebe der Menschen untereinander und in der Liebe seines kleinen Kinderherzens das Geheimnis der Gottesliebe als den Urgrund des Lebens. Dem echten Kind ist die Liebe nichts anderes als die schöpferische Freude an ihrem Gegenstand, die sich verlierende Hingabe an das, woran man sich freut.

Deshalb ist das Kind einer Zutraulichkeit fähig, die uns Erwachsenen fast immer abzusprechen ist. Es ist ja sprichwörtlich geworden, daß der Mensch umso schwerer sich befreunden kann, je älter er geworden ist. Das bedeutet Verlust an Lebenskraft. Denn die Lebenskraft besteht in der organischen Bindung und Einigung. Das Kind aber ist in seiner Aufnahme jedes neuen Kindes jeden Augenblick zu wahrer Freundschaft bereit, weil es wahrhaftig und wirklich vertrauen kann. Ist doch das Mißtrauen das Kennzeichen, daß wir in das Sündige eingetreten sind. Ist doch das Vertrauen das Kennzeichen, daß wir nicht in der Tatsünde des Bösen stehen. Das Kind ist ein vertrauendes Gemeinschaftswesen.

Wenn wir von dem, was hier nur angedeutet werden kann, auch nur ein wenig begreifen, so werden wir einsehen müssen, daß in einem Hause, welches der Gemeinschaft untereinander dient, die Kinder den ersten Platz haben müssen. Sie haben ihn umsomehr, je mehr sie wirklich Kinder sind. Man könnte sagen: Unsere Führer können nur Kinder sein; denn wir wollen so werden, wie echte Kinder sind. Deshalb freuen wir uns mit den Kindern an ihrer Beglückung in der Natur, an ihrer Freude an den Blumen und den Wäldern, an ihrem Glück mit den Pferden, Hunden, Kühen, Ziegen und Kaninchen, an ihrer Freude an den Rehen und Vögeln und was es sonst an Lebendigem gibt. Wir freuen uns an ihren Werken, wie etwa an ihren Höhlenbauten, in denen sie sich so glücklich in der Hingabe an ihre Aufgabe verlieren, als ob sie den

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schönsten Palast errichteten. Wir freuen uns an ihrer spielenden Arbeit als an ihrem arbeitenden Spiel. Das Kind lernt in der spielenden Freude an seiner Beschäftigung das Gestalten des Werkes, das Bilden von Werten, das Schaffen der Kultur.

Am meisten freuen wir uns, wenn unter den Kindern wieder und wieder ein Geist der Gemeinschaft, die Glaubens-Freundschaft der Freude und des vertrauenden Aufbaus, die Gerechtigkeit des Bruderbundes entsteht. Wir freuen uns an den kleinen Kindern, wenn wir es in ihren Augen spüren, daß sie anfangen, uns zu vertrauen und sich an uns zu freuen. Wir freuen uns an den größeren Kindern, wenn sie mit gläubiger Leidenschaft den Willen des Guten gegen jede ungerechte Benachteiligung anderer einsetzen. Wir freuen uns an ihnen, wenn sie miteinander Trupps, Bünde oder Gemeinschaften gründen, in denen sich diese Vertrauenseinheit als kindliche Gerechtigkeit und Treue erweist. Wir freuen uns an allem, was hier ursprünglich und echt ersteht. Hier wird alles geboren und nichts gemacht.

Aber es würde dennoch ein schwerer Irrtum sein, wenn man hieraus den Schluß ziehen würde, daß das Leben des Kindes kampflos sei, daß es noch nichts mit der Versuchung zum Bösen zu tun habe. Jene Einsicht in das Wesen des Kindes, die wir Jesus verdanken, zeigt uns nur, wie erschreckend es ist, wenn im Kinde der Wille zum Bösen auftritt und zur Tat drängt. Deshalb gilt es, Kinder zu lenken und zu leiten, daß ihre freie Hingabefähigkeit geweckt und gestärkt wird. Es gilt, sie mit Gutem zu beschäftigen, sie für das Göttliche zu interessieren und sie mit dessen Kräften zu erfüllen. Der freie Wille darf nicht unbehütet dem Bösen verfallen. Er ist für das Gute zu gewinnen.

Es kommt alles darauf an, ob wir diese weckende und interessierende Liebesarbeit dort einsetzen, wo das Kind wirklich Kind ist. Es handelt sich bei der Erziehung um keine polemische Bearbeitung, um keine kritische Zersetzung, — um keine richtende Umbarmherzigkeit, um kein ungläubiges Kommando. Kinderarbeit ist vertrauend, anregend und aufrichtend. Sie erkennt in dem Kinde jene wirkliche echte Kindhaftigkeit. Diese ruft sie immer von neuem wach und erfüllt sie mit immer neuen Kräften. Die Liebe zum Kinde hebt und bejaht das Wesen des Kindes. Sie läßt der Wirklichkeit dieser Kindhaftigkeit immer neue Kräfte des Guten zukommen, so daß es der bewußten schlechten Tat nicht verfällt. Wir Erwachsenen sind nicht fähig, den Moment zu erkennen, in welchem das noch kleine Kind zum erstenmal die wirklich bewußte Entscheidung für eine schlechte Handlungsweise trifft. Wer mit Kindern leben will, muß vor allem sein [sic] eigene Unfähigkeit zu dieser tieferen Gerechtigkeit erkennen. Dieses Zugeständnis sollte uns von jener falschen Methode endgültig fernhalten, die das Kind bei schlechten Handlungen ertappen und vergewaltigen wollte. Daß das Mißtrauen und das Einreden schlechter Absichten schwächt das Kind, statt es zu stärken. Das künstliche Bewußtmachen der bösen Triebe kann nicht der lebendige Weg sein. Ein jeder solcher Versuch verdirbt das Seelenleben des Kindes. Brutal zwingt es ihm den bösen Willen auf. Dieser moralische Gewaltakt an einem

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durchaus ungeeigneten Objekt macht unmoralisch. Kein Mensch hat das Recht, so zu handeln. Die falsche Voraussetzung liegt in der ausgewachsenen Schlechtigkeit des bösen Willens. Der Erzieher hat sie, nicht das Kind. Es ist hundert gegen eins zu setzen, daß das Kind bei weitem nicht so bewußt das Schlechte getan hat, wie es der an die böse Entscheidung gewöhnte Erwachsene annimmt. Anstatt dessen nimmt der wahre Erzieher in dem Stärken der kindlichen Energien immer von dort den Ausgangspunkt, wo das Kind ganz Kind ist, wo es sich also noch nicht für das Schlechte entschieden hat. Dort muß man einsetzen, wo es klar vor uns liegt: Hier ist das Kind noch ganz voller Vertrauen, noch ganz voller Hingabefähigkeit. Hier ist es noch ganz ergriffen von der hinter den Dingen schlummernden Schöpferkraft und Liebe.

Das gilt auch im Unterricht und in der Arbeitserziehung der größeren Kinder. Wir werden nur dann in der geistigen Arbeit und in der Werkarbeit mit den Kindern glücklich sein, wenn es uns gelingt, bei jedem Arbeitsgegenstand dieses tiefste Geheimnis der noch nicht verdorbenen Freude zu entdecken und wachzuhalten. Wir behaupten, daß dies bei jedem Interessengebiet möglich ist. Es gibt nichts im Himmel und auf der Erde, was nicht ein Gegenstand des Interesses Gottes ist. Folglich kann es das Interesse eines jeden echten Kindes finden. Bei jedem Zusammenkommen mit Kindern können wir in der geistigen oder körperlichen Arbeit dieses Lebendige in dem Kinde berühren. Es gibt ein einfaches Mittel, durch das wir uns prüfen können, ob wir es wirklich berührt haben. Wir haben das Geheimnis des Kindes nur dann berührt, wenn wir selbst davon berührt sind. Sonst nicht. Wir können also ein Kind nur dann zur Ordnung, zur Sauberkeit, zur Wahrhaftigkeit, zur Liebe, zum geistigen Interesse, oder zur körperlichen Zucht erziehen, wenn wir Erzieher von dem Gottesgeheimnis des Kindes so angetan sind, daß es uns innerlichst ergreift, welch ein Wunder der Freude und der Liebe in diesem Kinde schlummert. Dieser heilige lebendige Funke muß durch die gerade vorliegende Beschäftigung in uns wie in dem Kinde entfacht sein.

Erziehungsarbeit ist Dienst der Anbetung. Ohne jede Anbetung des Kindes handelt es sich allein um die Ehrfurcht vor dem göttlichen Geheimnis, vor der Gottesähnlichkeit, die hier noch nicht völlig verschüttet ist. Der Mensch ist dazu berufen, den Charakter Gottes abzubilden und darzustellen. Bei uns großen Menschen scheint die Erfüllung dieser Bestimmung hoffnungslos zu sein. Bei den Kindern ist sie noch nicht durch einen bestimmten Willensakt verraten und verloren. Wer eine Empfindung für das Ebenbild Gottes hat, wird davon ergriffen, so oft er mit einem Kinde zu tun hat. Wohl ist die Neigung zum Schlechten schon im kleinsten Kinde eine Trübung dieses Bildes. Aber erst wenn es zu einer Tat bestimmtester Willensentschließung kommt, zu einer schlechten Tat, die der Ebenbildlichkeit Gottes widerspricht, kommt es zum katastrophalen Verderb des Bildes. Für den Eintritt dieser Katastrophe kann keine Regel eines bestimmten Alters angegeben werden. Das Ende des Kindseins bleibt wie das Wesen des Kindes Geheimnis.

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So gibt es denn keine feste Zeitbestimmung, wann der bewußte Kampf des Geistes gegen das Böse wirklich einsetzt. Daß aber dieser Kampf in dem Leben eines jeden Kindes in einem bestimmten kritischen Jahr zu einem jenes Bild verwüstenden Zusammenbruch führt, ist sicher. Hier brauchen alle, die sich für die Erziehung des Kindes verantwortlich wissen, ein waches Herz, eine aktive Liebe, ein wirkliches Miterleben. Sie werden von der dem Kinde drohenden Gefahr mit ihm gemeinsam ergriffen, - nicht, um das Kind von außenher zurechtzuschlagen, sondern um in dem Kinde und mit dem Kinde die Position des Kämpfers einzunehmen. Denn in dieser Krisis soll ja das Kind die Kraft bekommen, den Kampf gegen das Schlechte selbst aufzunehmen, um ihn siegreich bestehen zu können. Diese Kraft ist der Geist desselben Christus, der das Wesen des Kindes entdeckt und erlöst hat.

Das aufbrechende Schlechte ist das Unkindliche, weil es das ist, was dem Herzen und dem Bilde Gottes widerspricht. Das Schlechte ist alles das, was dem wahren Leben des Kindes widerstreitet. Der Schlechte ist der Tod und mit ihm alles, was zum Tode führt, alles, was töten will oder tödlich wirkt. Gott ist das Leben. Wenn wir das Geheimnis des Lebens, wie wir es in einem Kinde staunend erfassen, in Gott begreifen, dann ist es klar, daß das Leben im Sinne Gottes das Gute ist, woran wir für die Kinder glauben müssen.

Das Gute ist das Geheimnis des Lebens, wie es dem wahren Kinde aufgeht. Es ist die organische Einheitsbeziehung des Lebens. Es ist die Liebe als Energie bündenden Bundes und bindenden Bandes. Es gibt keine andere Wahrheit als die vereinigte Liebe, die sich in hingebender Gerechtigkeit erweist. Tapfere Wahrhaftigkeit in der Liebe ist die Lebenshaltung, die der Wahrheit entspricht. Wahre Liebe ist wahrhaftig. Die Lüge zerstört das Leben, weil sie die Einheit des Charakters und die Vertrauenseinheit der Liebe aufhebt. Das wahre Leben, wie es im echten Kinde lebt, lehnt die Lüge wie den Tod ab. Das Leben Gottes ist Liebe und Wahrheit.

Man hat das Geheimnis des Lebens mit Recht darin gesehen, daß es gegen alle Reize, die das Leben zu Tode bringen wollen, kämpferisch abwehrend reagiert. Das Lebewesen gibt sein Leben auf, wenn es den Widerstand gegen die Gifte verliert, die es zerstören wollen. Als lebendiger Lebenszusammenhang ist das Leben die kämpferische Kraft der Abwehr, die den Tod überwindet. So gibt es denn keine andere Wahrhaftigkeit als die, welche die Wahrheit bis auf den Tod vertritt. Sie lehnt jede Vermischung mit den Dingen des Todes ab. Sie behauptet das wahre Leben und die wirkliche Liebe, die stärker ist als der Tod. Ohne diese kämpferische Haltung wäre das Leben verlogen und verdorben. Die Wahrheit wirklichen Lebens ist die Tapferkeit. Der Glaube an die Wahrheit ist die Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist die Lebenshaltung, die dem Glauben entspricht. Wer der Wahrheit nicht glaubt, wer ihr nicht mit völliger Hingabe treu ist, beweist sich als unwahrhaftig. Die Wahrheit führt zur Gradheit und Entschlossenheit, zur Rechtwinkligkeit an Leib und Seele. Das ist die Redlichkeit des Charakters. Das ist der aufrechte Gang

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des Menschen, zu dem er berufen ist. Nur die Gradheit der reinen Liebe ist die Freiheit der Seele, die zu wahrhaftiger Gerechtigkeit führt. Das gefährlichste Gift unwahrer Ungradheit ist die sexuelle Unsauberkeit. Sie raubt uns die Freiheit. Das Knochengerüst des geschlossenen Charakters wird durch jede Unreinigkeit aufgelöst und zerstört. Unreinheit ist Unwahrhaftigkeit und Untreue, die Sünde gegen die Einheit der Menschen untereinander. Die Reinheit ist als Wesen der Liebe wie die Wahrheit jenes Geheimnis des Lebens, das Gott selbst ist.

Das Leben Gottes ist die Liebe in Reinheit und Wahrheit. Der erwachsene Mensch steht ihm ferner als das Kind. Solange das Kind wahrhaft kindlich ist, bleibt es dem Leben treu und wehrt den Tod ab. Es lebt in der Liebe, in der Einheit und ihrer Gerechtigkeit, in der Wahrheit, in der Wahrhaftigkeit und in der Reinheit. Das Kind ist gläubig. Seine lebendige Liebe geht so tief in ihrer Schau auf, daß das Kind sich selbst, alle seine Gedanken und Wünsche an den Gegenstand seiner liebenden Schau hingibt. Das Leben des echten Kindes ist eine gänzlich unbewußte Opferbereitschaft, die sich keine Gedanken über die eigene Aufopferung machen kann. Deshalb ist jedes echte Kind ein soziales Wesen, dessen instinktsichere Gerechtigkeit für alle eintritt, die es schlechter haben. Im lebendigen Organismus, in welchem der Leib Einheit ist, lebt keine Zelle für sich selbst. Eins gibt sich dem anderen hin. So ist der „natürliche Egoismus“ auch beim Kinde eine Krankheit oder eine Anfechtungsperiode, die überwunden werden muß. Sie widerspricht der Lebendigkeit des Kindes in seiner von sich selbst freien Hingabe, in seinem wahrhaft natürlichen Gerechtigkeitsgefühl. Hier hat kein Erzieher ausgelernt. Jedes Geschenk, das man dem Kinde als persönliches Eigentum übergibt, ist eine Versuchung zur Unkindlichkeit als zur Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit. Jeder Besitzanspruch, den das Kind erhebt, könnte jene die Kindheit vernichtende Krisis sein, in welcher das Kind sich für das Schlechte und Teuflische entscheidet, indem es seine Freiheit der Hingabe und damit seine Gerechtigkeit der Liebe für immer verliert. Wenn ein Kind dazu kommt, daß sich in ihm Besitzgier, Eigentumswille, Neid, Machtgier und Ichbehauptung durchsetzt, so ist der Absturz aus dem Reich der Kindheit erfolgt. Der Gegenstand des Besitzes nimmt das Kind in Besitz. Es hat nun seine aufgeschlossene Freiheit, seine hingebende Liebefähigkeit und sein kindliches Gerechtigkeitsgefühl soweit eingebüßt, soweit dieses sein kleines Eigentum hindernd dazwischen steht.

Wie schwierig und verantwortungsvoll ist die Kindererziehung für uns Menschen, die wir in dem allen unfrei sind! Nur Weise und Heilige sind zur Erziehung fähig. Wir sind unreiner Lippen. Unsere Hingebung ist nicht vorbehaltlos. Unsere Wahrhaftigkeit ist gebrochen. Unsere Liebe ist nicht völlig. Unsere Güte ist nicht absichtslos. Wir sind nicht frei von liebewidrigem Eigenwillen und Eigentum. Wir sind ungerecht. - So ist es das Kind, das uns zum Evangelium führt. Die Aufgabe, die wir dem Kinde gegenüber haben, zeigt uns, daß wir zu schlecht sind, um in diesem heiligen Sinn auch nur ein einziges Kind erziehen zu können. Dieses Bewußtsein führt uns zur Gnade. Mit Kindern kann man ohne die Atmo-

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sphäre der Gnade nicht umgehen. Nur dann kann man Kinder erziehen, nur dann kann man mit ihnen leben, wenn man wie ein Kind vor Gott steht.

Nur so gibt man die gierige Scheinberechtigung seines Selbstlebens auf. Nun kann man auf kein Anrecht des Eigenen pochen, in dem man etwas von Gott erlangen und erzwingen wollte. Wie ein Kind läßt man sich nun alles schenken. So allein wird von neuem alles zum Wunder, über das wir staunen müssen. Der Gnade entspricht die staunende Anbetung. So wird der Ausgangspunkt zum Endpunkt.

„Ihr müßt wie die Kinder werden.“ Steht wie die Kinder vor der Gnade! Ihr müßt staunen lernen. In dem Bewußtsein eurer eigenen Kleinheit staunt über die Größe des göttlichen Geheimnisses, das in allen Dingen und hinter allen Dingen verborgen liegt. – Nur so werden wir beschenkt werden können. Nur so werden wir die Anschauung des Geheimnisses gewinnen, in der wir uns selbst ganz vergessen, weil uns in ihr die große Sache ganz überwältigt. Nur Menschen mit Kinderaugen können sich in das hineingeben, worüber sie staunen!

Diese Gnade des Kindwerdens ist die neue Geburt, in der uns der Geist Jesu erneuern will. Auf diesem Wege bringt uns dieser Geist wie den Kindern das Leben Gottes als hingebende Liebe, als schöpferische Kraft und als tätige Gerechtigkeit. Nur in dieser Atmosphäre kann das Kind seine unmittelbare Beziehung zu dem Geheimnis Gottes und zu allen Dingen und zu allen Menschen ausleben. So gehört denn die lebendige Kindererziehung in den Lebenskreis einer lebendigen Gemeinde. Die Kinder-Gemeinde in der Glaubensgemeinde der großen Menschen, die im Geist wahrer Bruderschaft und in der Arbeit gegenseitiger Hilfe stehen, ist der Weg der Erziehung.

In einer solchen Werk-Gemeinde, die im Kampf gegen Eigenwillen und Eigentum den Willen der umfassenden Liebe betätigt, ist der Platz für die Entfaltung aller kindlichen Möglichkeiten und für die stärkste Heranreifung aller Kräfte für den kräftigsten Arbeitsdienst an der Menschheit. Das Kinderleben wird hier durch die inneren heiligen Glaubensforderungen des Kindes und deshalb durch die Glaubenskräfte der lebendigen Gemeinde geführt und bestimmt. Die Eltern, die Erzieher und die Kinder selbst sind hier nichts anderes als die Funktionen der Gemeinde-Einheit, die lebendig und umfassend ist. Ihr Geist des Glaubens und der Liebe ist das überindividuelle Ganze, dessen bindende Kraft das Kind wahrhaft Kind sein läßt und und es so im heiligen Kampf von der tödlichen Vereinzelung freihält. Hier ist mehr als der Konsumtions-Kommunismus der Familie. Hier ist mehr als ihre allzu begrenzte Interessengemeinschaft des Blutes. Hier wird das Kind in alle wesentlichen Betätigungen hineingezogen, die in der großen Welt das Feld seines Wirkens werden müssen. Der Inhalt der Erziehungsjahre ist hier derselbe wie der Wirkungs-Inhalt, des späteren Lebens. In der Gemeinde-Landwirtschaft, in den Gemeinde-Werkstätten, in dem Weltverkehr der Gemeinde und in ihrer lebendigen kämpferischen Anteilnahme an allen Nöten und Aufgaben der ganzen Welt lebt das Kind von früh auf in allen den Fragen und

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Forderungen, die die heutige Not der großen Menschheit mit sich bringt. In einem wirklichen Gemeindeleben, dessen Kernpunkt die Kindergemeinde bildet, wird die wahre Freiheit von der Weltherrschaft der wirtschaftlich bestimmten Gegenwart gewonnen. Denn hier leben die Kinder in der Gemeinschaft des Geistes, die alle Lebensgebiete und Arbeitsgebiete durchdringt, ohne von ihnen beherrscht oder vergewaltigt zu werden. Und doch werden die Kinder in dieser Lebensgemeinschaft, die nicht für sich selbst, sondern vielmehr für die Überwindung der heutigen Weltnot berufen ist, vor die großen Fragen gestellt, in welche die seelische Not der Großstadt hineinführt. Eine solche Kindergemeinde darf jedoch nicht abgeschlossen sein, sondern muß vielmehr die Kraft in sich tragen, daß sie immer neue Kinder, die aus der Großstadt kommen, in sich aufnehmen und verarbeiten kann. Und sie muß in ihrer gesamten Ausbildung nach allen Seiten hin befähigt werden, das Getriebe der heutigen großen Welt zu verstehen und zu bewältigen. Nur wenn eine Gemeinde da ist, die im Gegensatz zu dem heutigen Wirtschaftsgetriebe eigennützigen Eigentums in der hingebenden Verantwortung für alle Mitmenschen lebt, kann eine solche Kindergemeinde heranwachsen. Hier kann die Kindergemeinde besser als alle Erwachsenen zu einem Abbild im Kleinen für die kommende Welt werden. Hier kann das Maximum einer von den heutigen Wirtschaftsmächten unabhängigen Erziehung bereits in unsern Tagen ermöglicht werden.